Ding Liren und Dommaraju Gukesh trennen sich in der ersten Weiß-Partie des Weltmeisters nach einer dreimaligen Stellungswiederholung remis, womit der Titelverteidiger mit 1,5 zu 0,5 in Führung liegt. Der Chinese überraschte seinen Herausforderer mit der Italienischen Partie, in der er mit 9. a5 eine Neuerung vorbereitet hatte. Der junge Inder war sehr früh zum Nachdenken gezwungen, wodurch Ding Liren einen großen Vorteil auf der Uhr hatte, der aber zunehmend pulverisiert wurde, weil beide Spieler ohne große Ambitionen und Pläne die Figuren hin- und herzogen. Als der Weltmeister dann das stille Remis-Angebot aussprach, zögerte Gukesh D nicht lange, der nun seinen ersten halben Punkt auf dem Konto hat und morgen mit Weiß erneut angreifen kann.

Gukesh D schaut sich die Situation kurz an, geht dann aber auch das stille Remis-Angebot seines Gegners ein. Die Spieler wiederholen drei Mal die Stellung und reklamieren dann das Unentschieden beim Schiedsrichter. Die zweite Partie der Schach-WM 2024 endet damit bereits nach 23 Zügen.

Interessant. Ding Liren unterbreitet Gukesh D ein stilles Remis-Angebot, indem er seinen Springer zurück nach c3 zieht. Sollte nun der junge Inder mit Sd4 antworten, könnten beide Spieler, die ja ganz offen erst nach dem 40. Zug ein Remis aushandeln dürfen, eine dreifache Stellungswiederholung anstreben. Diese könnte beim Schiedsrichter dann reklamiert werden, sodass die Partie unentschieden endet.

Dommaraju Gukesh zieht seinen Springer ebenfalls zurück und macht damit die d-Linie frei, auf der es nun zum Abtausch von Türmen kommen könnte. Vorhin ging Ding Liren diesem Abtausch noch aus dem Weg.

Der Titelverteidiger zieht seinen Springer nach e2 und erlaubt seinem indischen Herausforderer damit, den h-Bauern weiter nach vorne zu ziehen. Sofern Gukesh D das denn möchte. Mit Sxe2 könnte er nun natürlich auch einen größeren Abtausch einleiten.

Gukesh D setzt mit h5 fort. Womöglich möchte er damit h4 provozieren, denn den schwarzen Bauern will Ding Liren vermutlich nicht ein weiteres Feld nach vorne lassen.

Ding Liren spielt nun mit 47:46 Minuten Restzeit auf der Uhr doch den Zug Kf2, den er in einem Schritt hätte haben können, wenn er früher zu f3 gegriffen hätte. Beide Spieler belauern sich und zögern, zweischneidige Züge zu machen, die einerseits Fortschritte erzielen könnten, andererseits allerdings auch Schwächen und Angriffsmarken schaffen. Ein offenes Remis-Angebot darf erst nach 40 gespielten Zügen ausgesprochen werden, weshalb es eigentlich nur eine Frage der Zeit ist, wann einer der beiden Spieler, deren Zeit jetzt fast gleich ist, etwas probiert. Im Moment will aber keiner der Erste sein.

Der Chinese hat nun ebenfalls seine erste Stunde verbraucht und steht bei unter 60 Minuten Restbedenkzeit. Sein indischer Herausforderer ist jedoch bereits auf 46:25 gesunken, sodass Ding Liren nach wie vor einen kleinen Vorteil auf der Uhr hat.

Gukesh D stellt seinen König besser und spielt damit einen weiteren sehr prophylaktischen Zug.

Ding Liren zieht nun doch den Zug f3, der eigentlich durch Se1 vorbereitet wurde, dann aber unrealistischer schien, weil er seinen König zwischenzeitlich nach f1 stellte.

Dommaraju Gukesh investiert jetzt nicht übermäßig viel Zeit in seine Überlegungen und verdoppelt die Türme auf der d-Linie.

Mit 66:36 Minuten Restbedenkzeit auf der Uhr spielt Ding Liren nun den Zug Td1. Auch das ist sehr ruhig. Die Partie plätschert damit weiterhin sehr seicht vor sich hin, ohne dass einer der beiden Spieler einen richtig konkreten Plan verfolgen würde.

Ding Liren denkt abermals seit über zehn Minuten nach, womit er sich auf der Uhr immer mehr seinem Herausforderer annähert. Soeben ist er unter die 80 Minuten gerutscht. Gukesh D steht bei 55:20.

Der 18-Jährige lässt nicht allzu viel Zeit verstreichen und reagiert mit dem ebenfalls sehr ruhigen 16... g6. Es entsteht der Eindruck, als würden beide Kontrahenten jetzt ein wenig vor sich hin lavieren, ohne einen ganz klaren Plan zu verfolgen.

Ding Liren beantwortet den Zug seines Gegners mit dem sehr ruhigen 16. Kf1. Womöglich hat er nicht vor, f3 zu ziehen und seinem Gegner damit mit g5 und g4 eine Angriffsmarke zu schaffen. Andernfalls wäre es nämlich ein Tempoverlust, da der König nach f3 direkt über f2 in Richtung Zentrum hätte laufen können.

Dommaraju Gukesh verfolgt andere Pläne und strebt mit 15... Td6 die Verdopplung seiner Türme auf der offenen Linie an.

Ding Liren setzt tatsächlich mit 15. Se1 fort Gukesh D sollte nun womöglich direkt den g-Bauern laufen lassen, um sich schon mal gegen f3 zu postieren.

Jetzt schaut wiederum Ding Liren tiefer in die Stellung. Schon über zehn Minuten investiert der 32-Jährige in seine Überlegungen. Das kann er sich allerdings auch leisten. Er ist eben gerade erst unter die 100 Minuten Restbedenkzeit gefallen. Ein möglicher Kandidatenzug dürfte sicherlich Se1 sein, um anschließend mit f3 sein Zentrum zu stabilisieren.

Mit nur noch 57:58 Minuten Restbedenkzeit führt Gukesh D seinen nächsten Zug nun aus. Er entwickelt den Springer in die Brettmitte und bietet Ding Liren somit den Bauern auf e5 an. So richtig zugreifen kann der Weltmeister hier allerdings nicht, da beispielsweise nach 15. Sxe5 Tfe8 16. f4 Sxe4 17. Sxe4 die Springer-Gabel mit Se2 drohen würde, nach der der Inder vermutlich auf f4 zugreifen sollte und sich einen der beiden ungedeckten Springer auf der e-Linie zurückholen sollte. Das würde die Stellung stark vereinfachen, was eher nicht im Interesse des Chinesen sein dürfte, der eine Dreivertelstunde mehr Zeit auf der Uhr hat.

Dommaraju Gukesh muss weiterhin aufpassen, da seine nächsten Züge die Weichen dafür stellen, in welche Richtung die Partie sich womöglich noch entwickeln könnte. Der Inder schaut schon wieder eine Viertelstunde hinein und hat weniger als 70 Minuten Restbedenkzeit auf der Uhr. Das ist ihm gestern bereits zum Verhängnis geworden. Zur Erinnerung: Ein Inkrement von 30 Sekunden pro Zug gibt es erst ab Zug 41.

Interessant! Der Weltmeister geht dem Tausch des ersten Turms aus dem Weg, indem er seinen Turm nach c1 stellt. Aus praktischen Gesichtspunkten eine gute Entscheidung, denn er hat den Zeitvorteil und kann diese sehr ausgeglichene Stellung relativ risikofrei spielen, belässt aber den Druck auf dem indischen Herausforderer.

Dass nicht etwa 13... Tfd8 gespielt wurde, sondern 13... Tad8, hat wenigstens den positiven Nebeneffekt für den Inder, dass Ding Liren nun erstmals nachdenken muss. Vermutlich sucht der Chinese nach Möglichkeiten, langfristig auszunutzen, dass Dommaraju Gukesh womöglich den suboptimalen Turm auf die offene Linie gezogen hat.

Gukesh D entscheidet sich nach einer Weile des Nachdenkens dafür, die Damen vom Brett zu nehmen, und bietet anschließend auch den Tausch des ersten Turms an. Allerdings besetzt er die d-Linie nicht etwa mit seinem Turm auf f8, sondern mit dem Turm auf a8, was seltsam aussieht, weil Ding hier nicht mitspielen muss. Perspektivisch fehlt somit jetzt der Turm, der über b8 den Vorstoß des b-Bauern unterstützen könnte.

Gukesh D entscheidet sich gegen etwaige Bauerngewinne und hat offenkundig zu großen Respekt davor, in einer misslichen Lage zu landen, auf die Ding Liren sich bestens vorbereitet hat. Er lehnt das Bauernopfer mit der kurzen Rochade ab, woraufhin der Chinese die schwarzfeldrigen Läufer tauscht und anschließend mit 12. b3 fortsetzt, ohne nachzudenken. Gängige Schach-Engines geben dies als den besten Zug an, was verdeutlicht, dass der Titelverteidiger immer noch in seiner Vorbereitung ist und nach wie vor keine eigenen Züge finden muss, sondern nur die zuvor gelernten Theoriezüge aus dem Gedächtnis reproduzieren muss. Das ist extrem unangenehm für den 18-jährigen Inder, der alles am Brett selbst finden muss und bereits über 20 Minuten weniger Bedenkzeit hat.

Gukesh D entscheidet sich dafür, die weißfeldrigen Läufer zu tauschen. Ding schlägt umgehend mit seinem Bauern zurück. 10... Lb4 sieht durchaus interessant aus, da es zumindest temporär einen Bauern gewinnen sollte, falls beispielsweise 11. Sd5 Sxe4 käme. Allerdings dürfte ziemlich sicher damit zu rechnen sein, dass der Weltmeister ganz genau diese Stellung vorbereitet hat, was die Sache umso riskanter für den 18-Jährigen macht.

Dommaraju Gukesh muss erneut schon über fünf Minuten investieren. Ding Liren, der noch voll in seiner Vorbereitung zu sein scheint, ist damit bislang optimal aus der Eröffnung gekommen, was ihm in diesem Spiel einen entscheidenden psychologischen Vorteil verschafft. Überhaupt ist die Stellung mit den Gegenüberstellungen beider Läuferpaare alles andere als leicht zu behandeln, wenn es zuvor nicht am Computer eingehend analysiert wurde. Übermäßig viel Zeit sollte der Inder, der schon eine Viertelstunde weniger auf der Uhr hat als Ding Liren, in seine nächsten Schritte allerdings nicht investieren.

Dommaraju Gukesh folgt der Hauptvariante und setzt mit 7... h6 fort. Ding Liren entwickelt seinen Läufer daraufhin auf das Feld e3, woraufhin der Inder mit Le6 die Symmetrie wiederherstellt. Auch diese Stellung gab es schon zwischen Gukeshs Landsmann Rameshbabu Praggnanandhaa und Anish Giri. Hierauf kommt der Weltmeister allerdings mit einer Neuerung. Den Zug 9. a5 hat es in dieser Stellung bislang noch nicht gegeben. Der 18-Jährige dürfte somit jetzt einiges zum Grübeln haben.

Schon über fünf Minuten lang denkt Gukesh D über seinen nächsten Schritt nach. Der am häufigsten gespielte Zug in dieser Stellung ist 7... h6, was die weiße Idee Lg5 aus der Stellung nimmt, mit der der Springer auf f6 gefesselt werden soll.

Der 18-jährige Inder denkt erstmals ein paar Minuten nach und setzt dann mit 6... d6 fort, woraufhin Ding Liren mit der Rochade antwortet. Unter anderem gab es diese Stellung schon in zwei Partien von Großmeister Wesley So, der sich 2023 allerdings Hikaru Nakamura geschlagen geben musste, der mit dem überraschenden 7... Le6 antwortete.

Die Züge kommen noch recht fix und mit 5. Sc3 kommt das in der Schachliteratur auch als Canal-Variante bekannte Italienische Vierspringerspiel aufs Brett. Das gilt als nicht wirklich scharf, passt aber natürlich ins Konzept des Chinesen, der in der Partie führt und keine Not hat, das Risiko zu suchen.

Interessant: Ding Liren setzt mit 3. Lc4 fort und geht in die Italienische Partie. Die Variante Giuoco Piano wäre eigentlich eher in Weiß-Partien von Gukesh D zu erwarten gewesen.

Die Partie läuft und Ding Liren überrascht direkt mal mit dem für ihn ungewohnten Eröffnungszug 1. e4. Was hat der Weltmeister vorbereitet?

Ding Liren eröffnet seine Weiß-Partien üblicherweise am Damenflügel mit 1. d4 oder 1. c4. Bereits bei der Schach-WM 2023 überraschte der Chinese jedoch mit einigen bemerkenswerten Eröffnungen. Von frühen Abwartezügen (4. h3 im dritten Match) bis hin zum Londoner System, das bis dato noch überhaupt nie bei einer Weltmeisterschaft aufs Brett kam. Die Hauptfrage, die sich heute stellt, ist somit nicht etwa, ob es weitere frühe Abweichungen von gängigen Theorievarianten gibt, sondern wie früh der Titelverteidiger seinen indischen Herausforderer überraschen kann.

Der 18-jährige Inder Dommaraju Gukesh – üblicherweise Gukesh D genannt – hat zwar noch reichlich Zeit, den WM-Kampf auszugleichen, der erst dann vorbei ist, sobald ein Spieler mindestens 7,5 Punkte erreicht hat. Heute führt der Weltranglistenfünfte allerdings die schwarzen Steine. Sollte er nicht mindestens das Remis halten, würde der Druck ins Unermessliche steigen. Bereits gestern konnte der 18-Jährige seine nachvollziehbare Nervosität jedoch nicht verstecken, durch die ihm in der Zeitnotphase die Partie Schritt für Schritt entglitten ist.

Der erste Spieltag startete mit einem Paukenschlag: Ding Liren ging direkt im allerersten Spiel mit 1:0 in Führung und gewann seine erste Schwarz-Partie gegen seinen jungen Herausforderer aus Indien. Das dürfte dem mental angezählten Chinesen, der vor der Schach-WM 2024 offen über seine psychischen Erkrankungen sprach, die ihn lange von den Schachbrettern der Welt fernhielten, einiges an Auftrieb geben. In jedem Fall hat das Auftaktspiel gezeigt, dass der Titelverteidiger keineswegs der krasse Außenseiter ist, zu dem er im Vorfeld gemacht wurde.

Willkommen zurück aus Singapur! Hier findet heute die zweite Partie der Schach-WM 2024 zwischen Ding Liren und Dommaraju Gukesh statt. Los geht es um 10:00 Uhr.